Neue Westfälische vom 02.08.2010
FALKENHAGEN
Den Frieden im Innern finden
Plädoyer für die Freiheit des Denkens und für poetische Weltsicht auf den "Wegen durch das Land"
VON CHRISTINE LONGÈRE
Literatur unter freiem Himmel: | FOTO: CHRISTINE LONGÈRE
Falkenhagen. "Der Traum vom großen Frieden" ist nicht an einen geographischen Punkt gebunden, wie sich auf den "Wegen durch das Land" zeigte. Zum ersten Mal in seiner gut zehnjährigen Geschichte musste das ostwestfälisch-lippische Literatur und Musikfest einen ungeplanten Ortswechsel bewältigen. Das Team um die künstlerische Leiterin Dr. Brigitte Labs-Ehlert meisterte diese Herausforderung in einer organisatorischen Bravourleistung, und der Besucherstrom folgte bereitwillig der Umleitung vom ehemaligen Nato-Munitionsdepot auf dem Bilster Berg zum Kloster Falkenhagen.
Kulisse der rund siebenstündigen Mammutveranstaltung war nicht, wie ursprünglich vorgesehen, der Ort des Kalten Krieges, der nach den Worten Labs-Ehlerts "mit seinen massiven Hallen die Sprache der jüngsten Vergangenheit spricht", sondern die idyllische Klosteranlage unterhalb des Köterbergs, um die sich im Dreißigjährigen Krieg die Streitkräfte des protestantischen und des katholischen Lagers verheerende Kämpfe lieferten. Lesungen und Konzerte in der Kirche und unter freiem Himmel auf dem Klosterhof mit Ausblick in die Weite des Weserberglands gaben Beispiele für die Weisheit poetischer Weltsicht. Die Pause auf einer nahen Waldwiese bot Gelegenheit, friedfertige Gemeinschaft bei Wein und Brot zu erleben.
Herausragende Dichter und Schriftsteller aus den drei alten Weltkulturen Arabien, China und Haiti mit seinem afrikanisch-karibischen Hintergrund waren eingeladen, den Traum vom Frieden weiterzudenken. Platon, der große Philosoph der Antike, kam mit "Der Staat", gelesen von der Schauspielerin Eva Mattes, zu Wort. Das Konzertprojekt "Siwan" führte in das mittelalterliche maurische Spanien und vereinte die Jazz-Formation um den Norweger Jon Balke, das Barockensemble um Bjarte Eike, der sich nach dem Studium in Norwegen und London als führender Violinist in Kopenhagens Musikszene etablierte, und die arabischen Musiker Kheir Kachine (Violine) und Pedram Zamini (Zarb) mit der aus Tunesien stammenden Sängerin Lamia Bedioui.
Ein politisch engagierter und aufmerksamer Beobachter ist Louis-Philippe Dalembert, der in einem Armenviertel von Port-au-Prince aufwuchs, bevor er nach Europa kam und westliche Einflüsse seine Literatur mitprägten. Seine Erzählung "Jenseits der See", deren Übersetzung Hanns Zischler las, beschreibt mit Schreckensbildern jenen Moment in der haitianischen Geschichte, als 1915 amerikanische Soldaten auf der Insel landeten. "Alle Völker gleichen sich, sie wollen in Frieden leben", sagte der Autor im Gespräch mit Katharina Narbutovic, Direktorin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Was der Schriftsteller zu diesem Traum beitragen könne? "Schreiben und weiterhin schreiben."
Auch für den Libanesen Adonis, scharfer Kritiker jeder Ideologie und Oberflächlichkeit, ist es das kreative Potenzial der Lyrik, mit dem der Dichter jeder Form von Vereinfachung Widerstand leisten kann. Seine Texte, in deutscher Übersetzung vorgetragen von Hanns Zischler, plädieren für die Kräfte des Individuums und die Freiheit durch unabhängiges Denken.
Zwischen Adonis und Yang Lian, den die FAZ kürzlich als wichtigste Stimme Chinas apostrophierte, besteht Einigkeit darüber: "Religiöser Fanatismus und politische Ideologie - beides sind unsere Feinde." In Lians Gedichten, gelesen von seinem Übersetzer Wolfgang Kubin, geht es auch um die alltägliche Gewalt. Für ihn reicht es nicht, den Krieg zu beschreiben, der mit Waffengewalt ausgetragen wird. Eine noch größere Gefahr gehe von dem Krieg aus, der im Innern der Menschen stattfindet. Die Frage nach dem Frieden sei "die Frage nach sich selber und auch nach dem Anderen - ob Deutscher, Chinese oder Araber."
Einleitung und Ausklang der langen Folge literarischer und musikalischer Darbietungen bildete das "Requiem for a Pink Moon" des Ensembles Phoenix aus München mit Joel Frederiksen (Bass), Timothy Leigh Evans (Tenor), Domen Marincic (Viola da Gamba) und Axel Wolf (Theorbe). Sie spannten einen Bogen von der Gregorianik über die Renaissance bis zu den Songs des 1974 im Alter von nur 26 Jahren an einer Überdosis Antidepressiva gestorbenen englischen Liedermachers Nick Drake. Schade nur, dass am Ende wohl kaum noch jemand die den Leistungen der Künstler angemessene Konzentration aufbringen konnte. In seiner Fülle und Qualität hätte das Programm für mindestens zwei Veranstaltungen gereicht.
Quelle:
http://www.nw-news.de/lokale_news/hoexter/hoexter/3681374_Den_Frieden_im_Innern_finden.html